Elif Shafak – Ehre

Ihr Lieben!
Ich hatte mal wieder die Ehre, rechtzeitig bei Blogg dein Buch am richtigen Platz zu sein und habe somit ein schönes neues Buch zum rezensieren bekommen. Ganz besonders groß war mein Interesse an diesem Werk, da es von einer türkischen Autorin stammt und ich ja nun durch meinen Türkischunterricht näher mit dieser Ethnie in Verbindung getreten bin. Da bei mir Kultur aber auch immer durch Literatur vermittelt wird, war ich sehr gespannt, was mir Elif Shafaks Roman „Ehre“ so alles zwischen den Zeilen mitteilen würde.

„Meine Mutter starb zwei Mal. Ich habe mir geschworen, ihre Geschichte nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, habe aber nie die Zeit oder den Willen oder den Mut aufgebracht, sie niederzuschreiben. Bis vor Kurzem. (…) Diese Freiheit war ich Mum schuldig. Und ich musste noch dieses Jahr fertig werden, noch vor seiner Entlassung aus dem Gefängnis.
(…)
Ich werde ihm sein Zimmer zeigen und langsam die Tür schließen. Ich werde ihn dort allein lassen. In einem Zimmer in meinem Haus. Nicht zu nah und nicht zu fern. In diese vier Wände werde ich ihn einsperren, zwischen dem Hass und der Liebe, die ich empfinde, ob ich will oder nicht, und die für immer in einem Kästchen in meinem Herzen verschlossen sind.
Er ist mein Bruder.
Er, der Mörder.“

Die Zwillingsschwestern Pembe und Jamila verbingen in einem abgelegenen, kurdischen Dorf ihre Kindheit ungetrennt und stets eng miteinander verbunden. Doch das Schicksal treibt die beiden Mädchen im Erwachsenenalter auseinander. Während Jamila unabsichtlich in ein Leben als „ewig jungfräuliche Hebamme“ gleitet, wird Pembe aus ihrer Heimat fortgeweht – weiter, als sie es sich in ihrem Fernweh jemals erträumt hat: nach London. 
Dort versucht sie mit der neuen Kultur, den anderen Sitten und den lauernden Gefahren einer fremden Welt fertig zu werden und gleichsam ihre drei Kinder aufzuziehen. Doch während sie selbst als Kind gegen die Strenge ihrer Familie angekämpft hat, driftet sie nun als Mutter selbst in ein solches Verhalten ab. Mit katastrophalen Folgen! Denn gerade als Pembe versucht, sich aus der misslichsten Lage ihres Lebens – neues Land, neue Sprache, Dasein als Alleinerziehende Mutter – mit Hilfe eines neugewonnenen Freundes zu erheben, da spielt das Schicksal ihr erneut einen grausamen Streich und ihre Vergangenheit holt sie ein. 

„Ehre“ ist das leitende Motiv, welches sich auf vielschichtige Weise durch die gesamte Erzählung zieht. Während wir Europäer darunter etwas spirituelles und sehr ambivalentes verstehen, scheint es aus unserer Sicht in der türkisch-islamischen Kultur eher ein Begriff der Keuschheit und Jungfräulichkeit zu sein – etwas, dass lediglich den Frauen auferlegt wird, wie ein Zwang und aufgrund dessen Frauen, die um ihre Freiheit kämpfen, stets vom Tode bedroht oder schließlich auch davon eingeholt werden. So zumindest unsere Annahme.
Doch Elif Shafak zeichnet in ihrem Roman ein viel weiteres Bild, ein umfassenderes Gefühl, was es mit diesem Wort auf sich hat. Bereits Pembe und Jamilas Mutter Naze ist tief durchdrungen davon. Für sie ist es eine große Qual ihrem geliebten Ehemann keinen Sohn geschenkt zu haben, sondern nur acht Töchter. Der Gram, den sie empfindet, als die Zwillinge das Licht der Welt erblicken, scheint sich wie ein unsichtbares Tuch auch über Pembe gelegt zu haben – empfindet sie doch in England ähnliche Schuldgefühle, als sie beginnt sich über ihre Tradition hinwegzusetzen und ein neues Leben anzufangen. Stets begleiten sie Schuldgefühle, befleckt sie dadurch doch ihre und die Ehre ihrer Familie. Und das, obwohl sie aus unserer Sicht alles Recht dazu hat – betrügt und verlässt ihr spielsüchtiger Mann sie doch. Aber Pembe kann sich nicht lösen. Und auch ihr Sohn Iskender, den sie zu einem ehrenhaften Mann heranziehen will, kommt von diesem Weltbild nicht los. Er wird davon getrieben, die Rolle des Mannes im Haus einzunehmen. Und auch, wenn es den Jungen fast umbringt, so fühlt er sich doch dazu verpflichtet, seine Mutter zu beschützen, sie auf den rechten Weg zurückzubringen und die Ehre zu verteidigen. Mit welchen Mitteln auch immer.
Shafak zeigt Figuren, die sehr klar und nachvollziehbar beschrieben werden. Es sind Menschen aus einer anderen Kultur und doch wird ihr Innerstes deutlich, man meint zu verstehen. Jeder der Handelnden darf seine Sicht darlegen. Es entsteht ein Geflecht aus Erinnerungen, Momentaufnahmen, größeren und kleineren Strängen, die schließlich alle an einem Punkt zusammenlaufen und im Hier und Jetzt münden. In dem Moment, als Er wieder frei ist. Und als seine Mutter gestorben ist. Zweimal. 
Sprachlich besticht der Roman durch ungewöhnlich Bilder und Vergleiche. Er liest sich sehr angenehm und flüssig, die wenigen türkischen oder kurdischen Begriffe sind sogar in einem Glossar erklärt. 

Mein Fazit: Ich bin mit dem Gedanken an das Buch herangetreten, wirklich harte Kost vor mir zu haben, wahrscheinlich getränkt in Hass und Leidenschaft, Blut und Ehre. Doch gefunden habe ich einen spannenden Teppich, bei welchem alle Fäden nebeneinander laufen, sich ab und an kreuzen und zusammen ein Bild ergeben, welches so kostbar und zierlich ist, dass ich ganz überrascht davon bin. Selbst die Täterfigur Iskender ist für mich ein Sympathieträger, während die Hauptfigur Pembe mich teilweise schon mit ihren Schuldgefühlen erdrückte. Man möchte sie am liebsten wachschütteln und warnen, gleichzeitig aber auch beschützen. Insbesondere der jüngste Sohn Yunus und die Schwester Jamila sind mir beim Lesen jedoch ans Herz gewachsen. Beides sehr faszinierende und schöne, offene Charaktere. Um so mehr hat mich allerdings das Ende überrascht!
Außerdem hat mich noch die Art und Weise der Grundmentalität tief beeindruckt. Sie besagt, man solle die Menschen, die Natur, ja die ganze Welt so nehmen, wie sie ist – Gott hat sich dabei etwas gedacht. 
Mit diesen Eindrücken im Gepäck kann ich für „Ehre“ eindeutig eine Empfehlung aussprechen. Denn, auch wenn Ehrenmorde furchtbar sind, so wird hier eine andere Sicht gezeigt und es bleibt kein Hass oder keine Blutgier, keine Aggression, sondern lediglich Trauer, Nachdenklichkeit und auch Liebe. Man taucht in eine andere Welt ein, sieht die eigene mit fremden Augen und geht schließlich mit einem neuen, tiefgehenderen Verständnis und Mitgefühl aus den Buchseiten hervor.
Wer sich ebenfalls darin umsehen möchte – das Buch bekommt man beispielsweise hier.

Die harten Fakten:

Elif Shafak – Ehre.
24,90 €
ISBN: 978-3-0369-5676-3  


Ich
bedanke mich bei blogg dein buch und dem Kein & Aber-Verlag für die kosten-
und bedingungslose Bereitstellung dieses Rezensionsexemplares!

5 Gedanken zu „Elif Shafak – Ehre

  1. Goldkind

    Du hast das jetzt wirklich gut beschrieben… Aber ich bin mir echt nicht sicher, ob ich das lesen wollen würde.
    Ehrenmorde sind für mich ein echt grenzwertiges Thema. :/

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    1. palandurwen Artikelautor

      Das kann ich gut verstehen, für mich ist es ganz ähnlich. Dass es sich um einen Ehrenmord handelt, habe ich auch erst mitbekommen, als ich das Buch schon in Händen hielt. Aber wie gesagt, es ist am Ende irgendwie alles ganz anders. Zum Glück. Sonst wüsste ich auch nicht, was ich davon halten sollte ^^;

      Antworten

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