Ungeblendete Kinderaugen.

Der Raum erschien wie in
Nebel getaucht. Die halbtransparenten weißen Gardinen verhüllten fast komplett
die bodentiefen Fenster und sollten versuchen, das strahlende Sonnenlicht
auszusperren. Doch es wurde dadurch nur milchig und weicher. 

Ich sah die feinen
Staubpartikel in der Luft vor den Fenstern tanzen und umherwirbeln. Es wirkte
fast ausgelassen, ganz unpassend zur Stimmung
weiter innen im Raum. 
Ich wandte mich etwas
widerwillig von dem Schauspiel ab und betrachtete nachdenklich meine Familie.
Da war meine Schwester. Sie saß stumm, fast apathisch auf einem alten grünen
Samtsessel, der früher meiner Großmutter gehört hatte und von dem ich mich weigerte,
ihn zu entsorgen. Neben ihr am Fußende eines schmalen Bettes saß mein Mann.
Sein Gesicht war rot und fleckig, nass und gleichzeitig wirkte es glühend heiß.
Die Schlinge um seinen Arm und die zahlreichen Wunden in seinem Gesicht
schienen ihm kaum bewusst zu sein. Sie wirkten aber befremdlich auf mich. Und
auch wenn er aufgewühlt, ja fast aufgelöst wirkte und nahezu ununterbrochen in
einer unerhörten Lautstärke diskutierte, so war er noch nichts im Vergleich zu
meiner Mutter, die wie eine unruhige Löwin im Zimmer auf und ab lief.
Energisch, schwer, wütend waren ihre Schritte. Sie gab sich dieses Mal keine
Mühe, elegant und bedächtig zu wirken. Ihr sonst so zeitloses Gesicht war
verzerrt, wurde von Emotionen vergewaltigt, die ich nicht greifen, nicht
verstehen konnte. Auch sie schrie, klagte, lief hin und her, unruhig, ziellos.
Ihre Hände waren fahrig und griffen nach allem, was Halt versprach – ihren
Ärmeln, einer kleinen Porzellandose, ihren Haaren.

Was war nur
passiert? 

So kannte ich meine
Familie nicht – diese Menschen schienen mir fremd. Wo war das abfällig-ironische
Grinsen meiner Schwester, ihr freches Funkeln in den Augen? Wo war die Kraft,
die Unbeugsamkeit meines Mannes hin, mit der er stets den wirren Gedanken und
Einfällen, die ich nahezu ständig äußerte, die Stirn bot. Es war nie einfach
mit mir, das wusste ich, aber wir hatten uns doch so auf einander eingespielt –
nichts, dachte ich, könnte ihn je so aus der Fassung bringen. Und meine Mutter?
Eine sonst so auf Äußerlichkeiten bedachte Person, die an eine krankhafte
Perfektionistin grenzte. Kaum jemand kannte diese besorgte, diese unsichere
Seite an ihr. Wir sahen es nur selten, ihr schlagendes Herz. Sie hielt es
meistens gut unter Verschluss. Doch irgendetwas hatte sie aus dem Konzept
gebracht. Nur was? Was?

„Was ist los?“,
fragte ich schließlich meine Schwester. Doch sie reagierte nicht. Sie stierte
weiter die dunklen Dielen des Zimmerbodens an und schien mich gar nicht
wahrzunehmen. Ich hockte mich langsam verärgert vor sie hin, direkt in ihr
Sichtfeld, und wollte ihr die Frage noch einmal stellen, da sah ich, wie eine
Träne, so dick und schwer, als sei der Kummer der ganzen Welt in ihr
eingeschlossen, sich in ihrem Augenwinkel sammelte. Meine Schwester weinte nie.
Ich war das emotionale Wrack, der Spinner und Träumer, die Wankelmütige. Ich
legte meine Hand an ihre Wange und flüsterte leise ihren Namen, zum Trost – ob
für sie oder mich, wusste ich selbst nicht genau. Sie zuckte zusammen und sah
auf, direkt in mein Gesicht und doch durch mich durch wie in weite Ferne.
Erschrocken sprang ich wieder auf. So einen Blick hatte ich noch nie gesehen.
Er sog alle Empfindungen aus mir heraus und hinterließ nur Leere. Ich fühlte
mich fast unsichtbar, ich warf schon fast keinen Schatten mehr. An meine Mutter
brauchte ich mich in ihrer Stimmung zwar nicht wenden, sie hörte mir ja bereits
wenn sie ruhig war kaum zu, aber ich versuchte sie dennoch anzusprechen. Doch
nichts nütze – keiner schien mich zu bemerken. Was war denn geschehen?

„Mama!“ Es war
ein Flüstern, ich hätte es fast bei dem Gezeter im Raum überhört. Mit einem
Ruck drehte ich mich zur Tür, wo der Schopf meiner kleinen Tochter sich kaum
sichtbar am Rahmen vorbeigeschoben hatte und mich direkt ansah. Ihre Augen
waren groß und erstaunt und gleichzeitig besorgt. Kein Wunder bei diesem Chaos.
Noch einmal flüsterte sie „Mama!“, und hielt mir ihre kleine Handfordernd
 hin. Ich flog regelrecht auf sie zu,
glücklich, dass endlich jemand mich wahrnahm und gleichzeitig besorgt um meine
Tochter, mein Kind, bei dem dieses Geschrei, diese Gefühle doch eine
überwältigende Verwirrung ausgelöst haben mussten. Ich ergriff ihre Hand und sie
zog mich leise und doch bestimmt in den dunklen Flur. Die Tür lehnte sie
vorsichtig wieder an, so dass die Stimmen gedämpft, das Licht schummrig wurde.
Wir ließen uns an der Wand entlang auf den Boden gleiten, meine Tochter neben
mir und ich den Arm um sie gelegt. Ich musste etwas sagen. Für sie da sein.
Dieses Gefühl bestimmte alle meine Gedanken. „Alles wird wieder gut, meine
Kleine. Mach dir keine Sorgen!“, murmelte ich in ihr Haar. Es roch nach
Gänseblümchen und Gras. Natürlich, es war ein Sommertag, sie hatte im Garten
gespielt. 

„Mama?“ 
„Ja?“
„Was machst du noch
hier?“

Ich war irritiert. Wo
sollte ich denn sonst sein? „Wie meinst du das?“

Meine Tochter sah mich mit
großen Augen an, schlug die Lider einen Moment nieder und als sich ihre dichten
Wimpern wieder hoben, legte sie den Kopf schief und antwortete: „Mama, du
brauchst nicht mehr hier sein, weißt du das denn nicht? Du kannst
weitergehen.“

Ich verstand sie
nicht. 

„Aber Liebes, ich
muss doch auf dich aufpassen und für Papa und Oma und all die anderen da sein.
Du hast doch gesehen, dass etwas nicht stimmt, sie brauchen mich doch jetzt. Da
kann ich doch nicht weggehen.“ Ich lächelte sie an, doch sie betrachtete
mich nur nachdenklich.

„Mama, verstehst du
denn nicht, dass das deinetwegen ist?“

Ich verstand sie wirklich
nicht. Was war mit mir? Mein kleines Mädchen schien es besser zu begreifen. Sie
kuschelte sich an mich und alles wirkte vertraut, bis zu ihren Worten:
„Mama, du bist tot.“

Ich fühlte mich mit einem
Mal eiskalt. Ich hielt es für einen schlechten Scherz und wollte sie deswegen
bereits schimpfen. Doch mit einem Mal verstand ich es, erinnerte mich
wieder. 

„Du hattest einen
Unfall mit Papa“, hörte ich die Stimme meiner Tochter, „und nun
streiten sie darüber.“ 

Ich nickte stumm und
betrachtete sie. Wie viel sie bereits begriff. Ein Schwall Mutterstolz erwärmte
mich wieder und ich begann zu lächeln. Gleichzeitig traten mir Tränen in die
Augen.

„Du hast Recht. Jetzt
weiß ich es wieder. Und es tut mir so leid!“ Ich umarmte sie ganz fest.

„Ich weiß Mama. Mir
auch. Aber du musst jetzt gehen. Hier wirst du nicht mehr glücklich.“

Wie weise sie doch
war. 

Und was ihre ungeblendeten
Kinderaugen noch alles sahen.

Wir saßen noch einen
Moment da und hielten einander fest. Ich spürte ein langsam in mir ansteigendes
Prickeln und wurde von Wärme umhüllt. Ich wusste, nun war es soweit. Erst wenn
eine Seele geliebt wird, kann sie gehen.  

Langsam schob ich sie von
mir und lächelte sie an. „Vergiss nie, dass du mich gerettet hast“,
flüsterte ich ihr zu. Und auch wenn sie einen sorgenvollen Blick in den Augen
hatte und ihre Unterlippe zu beben begann, so wusste ich doch, dass sie tapfer
sein würde und ich gehen konnte. Sie sagte noch leise: „Mama, ich werde
dich vermissen!“ 

„Ich dich auch. Ich
warte auf dich.“ 

Wir lächelten uns an.
Das war das letzte, was
ich sah. 

Ich freue mich so sehr auf
den Moment, wenn ich ihr Lächeln wiedersehe. 

Bald.

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